Das Mietshaus der Siedlungsgenossenschaft im bayerischen Touristenstädtchen Riedenburg ist alt, aber sauber. Im engen Flur, wo es immer ein bisschen nach Kohlgemüse riecht, klebt eine vergilbte Blümchentapete. Dort hängen auch der Wochenplan der Müllabfuhr und eine Urkunde, auf der gerade noch zu lesen ist, dass die Mieter 1970 den 1. Platz beim örtlichen Blumenschmuckwettbewerb errungen haben.
Am Ende des Gangs, hinter der Tür mit dem hellblau getöpferten Namensschild, lebte Klaus Bourquain, 63. Gut zwei Jahre lang wohnte er dort - bis vor dreieinhalb Wochen, bis zum 11. Juli.
"Ein sehr netter Mensch", sagt der Rentner R., ein Nachbar. "Viel haben wir aber nicht gesprochen, der wollte das nicht so gern." Dennoch, als seine, R.s, Frau gestorben und er selbst schwer krank gewesen sei, da habe der Herr Bourquain die Dackelhündin Susi öfter mit rausgenommen, und die habe sich mächtig gefreut. "Mit dem Dackel", erzählt Rentner R., "konnte er sehr gut umgehen."
Das galt auch für Menschen. Bourquain kümmerte sich um alle, die Hilfe brauchten. Um Kinder, um Menschen mit Behin-
derungen, um Alte. Ohne für sich selbst etwas zu wollen - oder sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Bis zum 11. Juli.
Seit jenem Donnerstag sitzt der nette Nachbar Bourquain in Untersuchungshaft. Wegen Mordverdachts. Als junger Fremdenlegionär soll Bourquain 1960 in Algerien, im Alter von 21 Jahren, einen deutschen Kameraden getötet haben, um selbst fliehen zu können.
Dass die Ermittler dem Gutmenschen von Riedenburg heute, 42 Jahre später, auf die Spur kamen, liegt an dessen Unvorsicht, gepaart offenbar mit einem Schuss Naivität. Nach der Flucht aus der Fremdenlegion hatte er sich Ende 1963 in die DDR abgesetzt. Und später, als die beiden deutschen Staaten längst vereinigt waren, wollte er unter anderem wegen einer Rentensache bei der Gauck-Behörde in Berlin seine Stasi-Akte einsehen und hinterließ dort vor einigen Monaten seine aktuelle Riedenburger Anschrift, auf dass ihm die Unterlagen dorthin geschickt würden.
Der Kriminalfall Bourquain war zu dieser Zeit allerdings noch "offen", wie Juristen sagen. Weil die Gauck-Behörde das wusste, meldete sie die Adresse der Staatsanwaltschaft. Die erwirkte einen Haftbefehl - Mord verjährt schließlich nicht.
Bourquain wurde 1938 in Magdeburg geboren. Im vorletzten Kriegsjahr kam er in die Schule, später lernte er Brauer und Mälzer. Dann flüchtete die Familie in den Westen. Das war 1955, sechs Jahre vor dem Mauerbau. In Dortmund fand Bourquain Arbeit, erst in seinem erlernten Beruf, danach anderswo in einer Molkerei. Doch das geordnete Leben zwischen Arbeitsstelle und zu Hause wurde ihm offenbar schnell zu eng. "Immer mehr", schrieb er später über jene Jahre, "stieß mich auch der Tanz ums Geld ab."
Bourquain wollte ins Ausland, besuchte eine Dolmetscherschule und setzte dann einen abenteuerlichen Plan um, inspiriert durch einen Bericht im SPIEGEL über den Algerien-Krieg. Bourquain beschloss, den dortigen Freiheitskämpfern zu helfen - gegen die Kolonialmacht Frankreich.
Damals, Ende der fünfziger Jahre, leisteten in Algerien die Front de Libération Nationale (FLN) und deren militärischer Arm ALN erbitterten Widerstand gegen die französischen Herrscher. Und gegen FLN-Rebellen und ALN kämpfte auch eine französische Elitetruppe - die Fremdenlegion. Ein Haufen harter Jungs, sehr gut trainiert, aber sehr schlecht bezahlt. Deutsche stellten traditionsgemäß das größte Kontingent der legendenumwobenen Truppe; rund 800 starben zwischen 1954 und 1962 bei den Kämpfen in Nordafrika.
Bourquain muss die Gefahr, zu Tode zu kommen, gekannt haben, als er sich für den Algerien-Einsatz meldete. Umso absonderlicher seine Idee, sich erst bei der Fremdenlegion zu verdingen - um dann, vor Ort, zu den feindlichen Rebellen überzulaufen.
Am 6. Oktober 1959 trat Bourquain in Straßburg der Legion bei, Matrikelnummer 129 429. Er wurde in die 2. Kompanie des seit 1920 existierenden 4. Régiment Etranger d''Infanterie gesteckt, das in der Nähe der tunesisch-algerischen Grenze stationiert war. Bei der Ortschaft Munier hatten Legionäre eine Straßensperre errichtet; sie sollte das Lager des Regiments sichern.
Zwischen Sperre und Camp, im verminten Land, waren jeweils 500 Meter voneinander entfernt drei Wachposten eingerichtet und mit zwei Mann besetzt. Am 4. Mai 1960, dichter Nebel war aufgezogen, schob Bourquain am südlichen Posten Dienst, an seiner Seite der eineinhalb Jahre ältere Erich Deisler aus einem kleinen Dorf an der Oder.
Täglich, notierte Bourquain, sei in ihm die Angst gewachsen, irgendwann könne ein algerischer Kämpfer, ein Mudschahid, aus dem Gebüsch springen. Dann hätte er schießen müssen, dann hätte er einen Mann töten müssen, mit dem er sich doch eigentlich verbünden wollte.
Deshalb wollte Bourquain an jenem nebligen Tag im Mai die Chance nützen. Deisler las in einem kleinen Zelt einen Brief seiner Schwester, der Kopf beulte die dünne Plane aus. Bourquain nahm, so seine eigene Schilderung viele Jahre später, einen Stein, in der anderen Hand hielt er seine Maschinenpistole. Bourquain schlug von außen zu; mit dem Stein auf den Kopf unter der Plane. Doch der Kamerad war nicht, wie es Bourquain vielleicht erhofft hatte, bewusstlos. Er sprang auf, wehrte sich und schrie: "Bist du verrückt?" Dann floh Deisler, wollte Hilfe holen.
Bourquain hatte den Stein verloren, er setzte dem Verletzten nach, hieb mit der MPi auf Deislers Kopf. Doch Deisler rannte wieder weg. Und Bourquain feuerte. Die Beine, berichtete er später, die Beine habe er treffen wollen. Aber dann sei der Gejagte nach vorn auf die Erde gefallen.
Bourquain flüchtete, überwand Stacheldraht und Minenfeld und schleppte sich durch die algerischen Wälder. Kurz danach fanden ihn die Rebellen, und er blieb bei ihnen. Seine Traumrolle hat er dort nicht spielen dürfen. "Mein Beitrag im Freiheitskampf", schrieb Bourquain auf, sei eher "unbedeutend" gewesen.
Der Nebel, so halten es französische Akten fest, sei an jenem 4. Mai 1960 "gegen 15 Uhr" aufgekommen. Deshalb habe der zuständige Zugführer Wolfgang Clement den Befehl erhalten, "die Posten zurückzuziehen". Als sich Clement seinen beiden Untergebenen Bourquain und Deisler näherte, "vernahm er in einer Entfernung von etwa 200 m zwei Feuerstöße" - in diesen Sekunden muss Deisler ums Leben gekommen sein.
Der Leichnam wurde "etwa 100 m" vom Posten entfernt gefunden. Deisler war fürchterlich zugerichtet. Ein Militärarzt stellte folgende Verletzungen fest:
3 kreisrunde Öffnungen in Höhe der Wirbelsäule, 3 kreisrunde Öffnungen an der linken Schulter, 1 kreisrunde Öffnung in Höhe der rechten Hüfte, 1 kreisrunde Öffnung an der rechten Gesäßhälfte und 5 oder 6 Einschüsse im Kopf. Die Gehirnschale war gebrochen.
Am 26. Januar 1961 wurde Bourquain von einem Militärgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Wenige Monate zuvor hatte auf Anzeige der Franzosen auch die Staatsanwaltschaft in Dortmund - Bourquains letztem deutschem Wohnsitz - ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Das Amtsgericht Dortmund ordnete an, sämtliche Briefe zu beschlagnahmen, die Bourquain nach Hause schrieb. Doch nur einmal meldete sich der Ex-Fremdenlegionär schriftlich, der Umschlag trug den Poststempel "Ghardimaou (Tunisie), 26.12.1961". Der Absender lautete: "Chez Abdula ben Sassi à Ghardimaou, Tunis". Bourquain deutete an, er gedenke, vorerst in Tunesien zu bleiben.
So kamen die deutschen Ermittler nicht weiter, und als Bourquain schließlich am 9. Juni 1962 auf dem Frankfurter Flughafen landete und bei den Grenzschützern als Reiseziel "Dortmund" angab, trafen sie zu spät ein. Die Übermittlung eines Fernschreibens aus Frankfurt an das nordrheinwestfälische Landeskriminalamt hatte eine ganze Woche gedauert.
Um Bourquain auf die Spur zu kommen, ging die Polizei sehr weit: Seine Eltern wurden beschattet; selbst als die Mutter zur Kur weilte, spionierte man ihr nach. Alles erfolglos.
Zu diesem Zeitpunkt war Bourquain, was den Fahndern verborgen blieb, freilich längst wieder nach Tunesien zurückgeflogen - offenbar hatte er Lunte gerochen. Später erklärte Bourquain, er habe in Westdeutschland nur Urlaub machen wollen. Im Mai 1963 bereitete er tatsächlich seine Rückkehr vor, jedoch nach Ostdeutschland. "Ich habe die Ehre", schrieb er an den Ulbricht-Staat, "um die Wiederaufnahme in der DDR zu bitten." Die Ehre wurde ihm alsbald erteilt.
Wer den Dortmunder Ermittlern den Tipp gab, einmal dort nach Bourquains Verbleib zu fragen, ist bis heute nicht sicher. Jedenfalls meldete Anfang 1964 ein Staatsanwalt aus Frankfurt (Oder) nach Dortmund, Bourquain halte sich in der DDR auf. Die NRW-Justiz bat die DDR-Kollegen daraufhin, das Verfahren zu übernehmen.
Doch mit Verfügung vom 21. August 1964 - Aktenzeichen IA (b) AR 22/64 - lehnte es der DDR-Generalstaatsanwalt ab, gegen Bourquain zu ermitteln. Dieser sei Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, verurteilt von einem französischen Gericht - also hätte Frankreich "unter Beachtung der völkerrechtlichen Bestimmungen direkt die zuständigen Organe" der DDR angehen müssen.
Der aus DDR-Sicht formale Verstoß der westdeutschen Ermittler rettete Bourquain vermutlich vor der Haft. Die Entscheidung des Generalstaatsanwalts "der SBZ" diene, vermerkte ein bundesdeutscher Beamter bitter, "ersichtlich dem außenpolitischen Zweck, die Anerkennung der ,DDR'' de facto herbeizuführen". Wie üblich trug das Kürzel DDR Anführungszeichen.
Bourquain schlug sich im Osten mit Jobs durch. Als Tierpfleger, als Bühnenarbeiter, als Brauer. Die Bluttat konnte er nicht vergessen, er hatte Alpträume, die bundesdeutschen Strafverfolger würden ihn eines Tages doch noch zur Rechenschaft ziehen. Vielleicht entschloss er sich deshalb zu schreiben, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Bald wurde der Schriftstellerverband Halle auf den jungen Autor aufmerksam, Bourquain erhielt ein Stipendium. Das DDR-Regime zahlte ihm weitere Fördergelder, damit er in Ruhe seinem neuen Beruf als Autor nachgehen konnte. "Er war ein schwerer Mensch", sagt seine frühere Verlegerin Katrin Pieper heute, "und er hatte herbe Texte."
Texte aber, die viele aufhorchen ließen. Am liebsten schrieb Bourquain Kinderbücher. "Vom Veilchen, das nicht duftete", hieß eines, "Mein kleines wildes Tier" ein anderes. Es waren Geschichten, so Verlegerin Pieper, die nicht in erster Linie von Bienen und Bären handelten. Sondern von Konflikten, von Unrecht, von Ängsten und menschlichen Wesen, die aus der Gesellschaft ausgestoßen worden waren.
Von Menschen wie Bourquain.
Bourquain lebte damals in einem alten, reparaturbedürftigen Bauernhaus nahe Rostock, ganz schlicht, aber mitten in der Natur. Umgeben von Wiesen, Wäldern und Wildtieren. "Für ihn", sagt seine frühere Lebensgefährtin Christa K., "war das in Ordnung. Er war ja irgendwie ein Träumer, der gar nicht in diese Welt gehört."
Lange wollte dieser Träumer nirgends bleiben. Vielleicht war es immer Angst, irgendwann aufgespürt zu werden. Nach der Wende 1989 arbeitete Bourquain in Güstrow als Altenpfleger. Später bewarb er sich um eine Stelle in München, blieb dort nur kurz, weil er in der großen Stadt nicht leben wollte.
Vor zwei Jahren zog Bourquain nach Riedenburg. Er arbeitete wiederum als Altenpfleger, wurde Liebling aller Senioren im Kurpark Altmühltal, organisierte Konzerte und Kunstausstellungen, nahm die Heimbewohner mit zu Ausflügen. Anfang dieses Jahres kündigte Bourquain und wollte seine Rente beantragen - und offenbar auch seine Vergangenheit bewältigen. Deshalb stellte er jenen Antrag auf Einsicht in seine Stasi-Akte. Die Gauck-Behörde informierte Dortmund, und Dortmund informierte Regensburg. Die dortige Staatsanwaltschaft ist zuständig für die Stadt Riedenburg und ermittelt nun wegen Mordes.
Wer Bourquains ungewöhnliche Lebensgeschichte - oder wenigstens Teile daraus - hätte wissen wollen, hätte sie lange schon nachlesen können. Nur tat dies keiner, der sich von Amts wegen für den ehemaligen Fremdenlegionär interessierte. In den Erzählsammlungen "Der alte Achmed und der Regen" (1973) und "Das Göttliche" (1997) legte Bourquain gleichsam schon vor Jahren ein Geständnis ab. Er schildert sehr genau, was an jenem nebligen Maitag in Algerien geschah. Die Texte decken sich in wesentlichen Teilen mit den Erkenntnissen der Ermittler.
Wird Bourquain - was zu erwarten ist - wegen Mordes angeklagt, will sein Anwalt Günther Herzogenrath-Amelung den Gerichtssaal "zum Tribunal machen". Sein Mandant wolle dann auspacken über den "schmutzigen Krieg" Frankreichs in Algerien, über Quälereien, über Folter, über die Verletzung elementarster Menschenrechte durch Vertreter einer westeuropäischen Demokratie.
Möglicherweise hofft Herzogenrath-Amelung, die Franzosen würden dann eingreifen und erklären, ihrer Auffassung nach sei das Verbrechen Bourquains am Kameraden Deisler als Totschlag zu bewerten. Denn Zeugen gibt es nicht. Und Totschlag wäre schon lange verjährt.
GEORG BÖNISCH, CONNY NEUMANN
Die Fremdenlegion
wurde im März 1831 durch Verordnung des "Bürgerkönigs" Louis Philippe aufgestellt. Sie sollte nur in Übersee eingesetzt werden. Die Legionäre mussten damals zwischen 18 und 40 Jahre alt sein, mindestens 1,55 Meter groß und von robuster Gesundheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren vor allem Nordafrika und Indochina entscheidende Kampfgebiete. Wie viele Deutsche in der "Légion étrangère" bis heute Dienst getan haben, steht nicht genau fest; nach Recherchen des Historikers Eckard Michels waren es allein zwischen 1870 und 1965 etwa 100 000. Derzeit dienen in der Legion rund 8000 Soldaten aus über 130 Ländern, viele aus Osteuropa. Die Fremdenlegion nimmt seit Jahren an friedenssichernden Einsätzen teil, etwa 2001 an der Nato-Mission "Essential Harvest". Dort waren ihrem Kommando auch Soldaten der Bundeswehr unterstellt.
* Mit Kameraden der Fremdenlegion in Algerien um 1960.